Ein Jahr Zeitenwende Bundeswehrbeschaffung im Tiefschlaf

27.02.2023

Ein Jahr ist es her, dass Russland einen verbrecherischen Angriffskrieg auf die Ukraine gestartet hat. Über Nacht hat sich so auch für Deutschland die Sicherheitslage dramatisch verändert. Plötzlich wurde die Notwendigkeit einer einsatzbereiten und starken Bundeswehr wieder parteiübergreifend anerkannt. Mit seiner Regierungserklärung am 27. Februar 2022 und der Ausrufung der Zeitenwende – gerade im Bereich der deutschen Verteidigungspolitik – hat Bundeskanzler Olaf Scholz große Taten und Veränderungen angekündigt.

 

Zeit, nach einem Jahr Bilanz zu ziehen. Bei einem Blick auf das Thema Bundeswehrbeschaffung fällt diese Bilanz aber dünn aus. Viel wurde angekündigt, wenig ist passiert. Es ist der Bundesregierung nicht gelungen, das vergangene Jahr zu nutzen, um signifikante Veränderungen im Beschaffungsprozess umzusetzen.

 

Dazu erklärt Ingo Gädechens, Berichterstatter der CDU/CSU-Fraktion für den Verteidigungsetat im Haushaltsausschuss:

 

„Die Bilanz nach einem Jahr sogenannter Zeitenwende ist ernüchternd. Die Bundeswehrbeschaffung befindet sich nach wie vor im Tiefschlaf. Man hat das Gefühl, das System arbeitet weiter wie in Friedenszeiten. Alle Aufbruchstimmung ist komplett gewichen. Es bleibt leider nur ein Sammelsurium kleinerer Maßnahmen, die offensichtlich keinen durchgreifenden Effekt haben.

 

Wie wenig passiert ist, zeigt ein Blick auf das Jahr 2022. Genau 0 Euro wurden im letzten Jahr im Rahmen des Sondervermögens ausgegeben. Seitens der CDU/CSU haben wir gefordert, schnell Geld auszugeben und z.B. dringend benötige Munition zu beschaffen. Passiert ist: Nichts – eben 0 Euro.

 

Auch beim Blick auf die gesamten eingeplanten Rüstungsausgaben sieht man keine ‚Zeitenwende‘. Wie die Bundesregierung zugeben muss, sind von den insgesamt 9,9 Milliarden Euro für Rüstungskäufen nur 7,9 Milliarden Euro abgeflossen. 2 Milliarden Euro – oder über 20% der zur Verfügung stehenden Mittel – konnten nicht ausgegeben werden.

 

Hier lohnt sich auch ein genauerer Blick in die einzelnen Projekte. Im letzten Jahr hatte das Verteidigungsministerium zum ersten Mal die Möglichkeit, nicht verbrauchte Mittel für große Rüstungsvorhaben in sogenannte Selbstbewirtschaftungskonten zu überführen. Hierunter verbirgt sich die Summe von 889 Millionen Euro, die in diesem Sinne verbucht wurde. Nach Auskunft der Bundesregierung sind beispielsweise beim Marinebetriebsstoffversorger nur 22,8% der vorgesehenen Mittel auch wirklich abgeflossen. Bei den Seefernaufklärern ist die Quote mit 23,4% nur unwesentlich besser. Viele weitere Projekte sind ebenfalls schlecht gelaufen und verzögern sich. Von einer Beschleunigung ist hier nichts zu sehen!

 

Selbst wenn man das Ministerium an den eigenen Jubelmeldungen misst, ist die Bilanz ernüchternd. So wurde als eine Maßnahme immer wieder angeführt, dass Dringlichkeitsbeschaffungen seit dem 1. März 2022 deutlich vereinfacht worden seien. Aber was ist passiert? Praktisch nichts. Für die Frage, wie viele Projekte von dieser Beschleunigung profitieren konnten, musste das Ministerium erst einmal eine Fristverlängerung beantragen – offensichtlich ist man dort so wenig von den eigenen Maßnahmen überzeugt, dass man bei Nachfrage erst einmal alles zusammensuchen muss und keine eigene Statistik pflegt! Nach einer Verdoppelung der normalen Antwortfrist kommt dann als Antwort: Ganze neun Vorhaben wurden vereinfacht beschafft! Im Verhältnis zu den knapp 12.000 Beschaffungsverträgen, die die Bundeswehr im Jahr durchschnittlich abschließt, ist dieses Ergebnis quasi nichts. Ein weiteres Beispiel, dass Beschleunigung und Dringlichkeit in der Rüstungsbeschaffung anscheinend keine Rolle spielt. Und auf die Listen von Dutzenden Rüstungsfirmen, welche Waffensysteme die Industrie schnell der Bundeswehr zur Verfügung stellen könnte und die im Februar 2022 vom Verteidigungsministerium angefordert wurden, hat übrigens bis heute nicht eine einzige Firma eine Antwort erhalten.

 

Wird es dieses Jahr besser? Bisher deutet leider nichts darauf hin. Seit Jahresbeginn erreicht das Parlament praktisch keine relevante Vorlage. Offenbar gibt es immer noch keine unterschriftsreifen Projekte. Im Januar und Februar hat das Verteidigungsministerium genau zwei Projekte im Parlament vorgestellt. Einmal geht es um Sanitätszelte, einmal um eine Verlängerung für einen Satellitenvertrag. Und das soll jetzt die Zeitenwende sein? Selbst wenn wir noch die erste März-Woche hinzunehmen, wird es nicht besser. Hier liegt wieder nur ein Vertrag vor – und da geht es um einen Abruf aus einem schon bestehenden Rahmenvertrag für Soldatenfunkgeräte. Das ist Beschaffung im Tiefschlaf. Die drei Vorlagen haben insgesamt nur einen sehr kleinen dreistelligen Millionenumfang – während wir eigentlich Verträge im Milliardenbereich bräuchten! Um der Bundeswehr das an Material zukommen zu lassen, was gebraucht wird, reicht das alles nicht aus.

 

Die Untätigkeit über fast zwölf Monate kann man auch mit dem Namen Christine Lambrecht verbinden. Die katastrophale personelle Fehlentscheidung des Bundeskanzlers hat nicht nur tiefe Frustration in der Truppe ausgelöst, sondern ist eine zentrale Ursache dafür, dass wichtige Entscheidungen verschleppt oder gar nicht getroffen wurden.“